Abgrenzung und Klassifizierung von Medizinprodukten
Das Handbuch zur Abgrenzung und Klassifizierung im gemeinschaftlichen Rechtsrahmen für Medizinprodukte und In-vitro-Diagnostika (gemäß Verordnung (EU) 2017/745 über Medizinprodukte und Verordnung (EU) 2017/746, Version 4, September 2025) ist ein Leitfaden der Europäischen Union, der erklärt, wann ein Produkt ein Medizinprodukt ist und welcher Risikoklasse es zugeordnet wird.

Das Dokument erfasst Vereinbarungen, die zwischen den Mitgliedstaaten im Rahmen der Borderline and Classification Working Group (BCWG) – einem Zusammenschluss von Behörden aller EU-Mitgliedstaaten - getroffen wurden. Diese Gruppe arbeitet nach dem Helsinki-Verfahren, einem Diskussionsprozess zwischen Behörden zur Klärung unklarer Fälle.
Wenn verschiedene EU-Länder die Gesetze unterschiedlich auslegen, kann die öffentliche Gesundheit gefährdet und der Binnenmarkt verzerrt werden. Das Manual dient als Unterstützungsinstrument für einheitliche Entscheidungen, ist jedoch nicht rechtsverbindlich, spiegelt aber den Konsens der EU-Behörden wider und kann von Benannten Stellen und nationalen Behörden als Referenz verwendet werden.
Artikel 4 der MDR regelt den rechtlichen Status eines Produkts und erleichtert es, Grenzfälle zu klären, wenn unklar ist, ob ein Produkt als Medizinprodukt oder Zubehör zu klassifizieren ist.
Womit beschäftigt sich das Manual?
(Es handelt sich hier lediglich um einer orientierende Zusammenfassung und ersetzt im Zweifelsfall nicht die Lektüre des Originaldokuments, Quelle s. unten)
Das Manual on Borderline and Classification ist ein offizieller Leitfaden der Europäischen Union, der Herstellern, Behörden und Medizinprodukte-Fachleuten hilft, zwei kritische Fragen zu beantworten:
- Ist mein Produkt überhaupt ein Medizinprodukt? (Qualifizierung)
- Wenn ja, welche Risikoklasse hat es? (Klassifizierung)
Teil 1: Medizinprodukte nach der MDR (Verordnung 2017/745)
Was ist ein Medizinprodukt?
Ein Medizinprodukt ist nach der EU-Verordnung 2017/745 ein Produkt, das für einen spezifischen medizinischen Zweck bestimmt ist und seine Hauptwirkung nicht durch pharmakologische, immunologische oder metabolische Mittel erreicht.
1.1 Qualifizierung: Wann ist etwas KEIN Medizinprodukt?
Die größte Herausforderung liegt in der Abgrenzung zu ähnlichen Produktkategorien. Das Manual will Klarheit geben durch konkrete Beispiele:
Abgrenzung zu Arzneimitteln
Nasenspray mit Antikörpern gegen COVID-19
- Antikörper binden sich an das Virus und inaktivieren es
- Ergebnis: Nicht als Medizinprodukt zu qualifizieren, weil die Wirkung immunologisch ist (daher Arzneimittel)
Wurzelkanal-Spüllösungen (mit Natriumhypochlorit oder Chlorhexidin)
- Hersteller behaupten: rein mechanische Spülung
- Ergebnis: Trotzdem Klasse III, weil NaOCl und CHX antimikrobielle Eigenschaften haben – es sei denn, der Hersteller kann wissenschaftlich beweisen, dass diese Wirkung nicht eintritt
Dualwirkung-Creme mit Menthol und Capsaicin
- Menthol wirkt auf TRP-Ionenkanäle ein = pharmakologische Wirkung
- Ergebnis: Nicht als Medizinprodukt qualifizieren, weil die Hauptwirkung durch pharmakologische Mittel erreicht wird
Lactose-Tabletten zur vaginalen Anwendung
- Nährstoff für Milchsäurebakterien (metabolischer Prozess im Körper)
- Ergebnis: Nicht als Medizinprodukt, weil metabolische Mittel verwendet werden
Abgrenzung zu Kosmetika
Zahnfleckenentferner mit Mikroschliff-Wirkung
- Argument der Hersteller: behandelt Fluorosisflecken, Amelogenesis imperfecta
- Ergebnis: Trotzdem Kosmetika-Produkt, weil der Zweck ästhetisch ist – egal ob mechanisch oder chemisch, egal ob Krankheitsfolgen
Abgrenzung zu PSA (Persönliche Schutzausrüstung)
Abdeckungen für medizinische Untersuchungstische
- Zweck: Hygiene gewährleisten, Krankheitsübertragung verhindern
- Ergebnis: Medizinprodukt Klasse I, weil spezifischer medizinischer Zweck (Krankheitsprävention)
Rettungsbeutel für Patiententransport
- Stabilisierung und Schutz des Patienten beim Transport
- Ergebnis: Medizinprodukt Klasse I, weil Ausgleich einer Behinderung
Plexiglas-Box zum Schutz von Pflegekräften
- Schützt vor Tröpfchenexposition (z.B. beim Intubieren)
- Ergebnis: NICHT als Medizinprodukt, weil Schutz der Pflegekräfte, nicht des Patienten
Abgrenzung zu Allgemeinprodukten
Mobiles steriles Luftsystem
- Entfernt Krankheitserreger durch Filter und erzeugt laminaren Luftstrom
- Ergebnis: NICHT als Medizinprodukt, weil nur die Umgebung kontrolliert wird, nicht direkt im/am menschlichen Körper wirkt
Medizinische Rechner (z.B. CHA₂DS₂-VASc-Score für Schlaganfallrisiko)
- Berechnet klinische Scores zur Unterstützung von Diagnose/Behandlung
- Ergebnis: JA, Medizinprodukt mindestens Klasse IIa, weil Informationen für medizinische Entscheidungen bereitgestellt werden
Nadelzähler für den OP
- Zählt Nadeln und Skalpelle nach dem Eingriff
- Ergebnis: NICHT als Medizinprodukt, weil kein spezifischer medizinischer Zweck (nur Zählung/Organisation)
Temperatursensor in Skoliose-Korsetts
- Verfolgt Compliance (wie lange das Gerät getragen wird)
- Ergebnis: NICHT als Medizinprodukt und nicht als Zubehör, weil die medizinische Funktionalität des Korsetts nicht direkt unterstützt wird
Smartphone-App zur STI-Prävention
- Teilt Testergebnisse zwischen Sexualpartnern, berechnet Infektionsrisiko
- Ergebnis: NICHT als Medizinprodukt, weil hauptsächlich Kommunikation/Datenaustausch, Risiko basiert auf Verhalten nicht physiologischen Parametern
Biozide, Lebensmittel, Textilbehandlungen
Für diese Kategorien behandelt das Manual spezifische Abgrenzungsszenarien, die hier aufgrund ihrer geringeren praktischen Häufigkeit zusammengefasst sind.
1.2 Klassifizierung: Welche Risikoklasse?
Sobald ein Produkt als Medizinprodukt qualifiziert ist, wird es einer von vier Risikoklassen zugeordnet:
- Klasse I = niedrigstes Risiko
- Klasse IIa = mittleres Risiko
- Klasse IIb = erhöhtes Risiko
- Klasse III = höchstes Risiko
Die Klassifizierung folgt 21 Regeln im Anhang VIII der MDR. Das Manual gibt bei ausgewählten Regeln konkrete Beispiele:
Regel 7 & 8: Implantierbare und Langzeit-Produkte
Dermale Füller (Hautfüller gegen Falten)
- Injiziert unter die Haut, meist mit Hyaluronsäure, teilweise absorbierbar
- Ergebnis: Klasse II oder III, abhängig von Absorptionsdauer (Regel 7 und 8)
n-Butyl-2-cyanoacrylat (nBCA) Klebstoffe für Venenverschluss
- Verwendet für permanenten endovaskulären Verschluss von Krampfader-Venen
- Früher: Klassifizierung hing von Absorptionszeit ab
- Ergebnis (neu): IMMER Klasse III, unabhängig von Absorptionszeit
Kundenspezifische Schädelimplantate
- Ersatz von Schädelteilen, sitzt auf der Dura Mater (äußere Hirnhaut)
- Ergebnis: Klasse III, weil in direktem Kontakt mit dem zentralen Nervensystem – unabhängig von biologischer Wirkung oder Interaktionsmechanismus
Regel 9: Aktive therapeutische Produkte mit Energie
Argon-Koagulationsgeräte
- Erzeugtes Argon-Plasma gibt Energie an Körpergewebe ab (elektrochirurgische Technik)
- Ergebnis: Klasse IIb, weil potenziell gefährliche Energieabgabe im therapeutischen Kontext
Regel 11: Software
Medizinische Rechner (z.B. Nierenfunktion nach Cockcroft-Gault)
- Berechnet Score zur Bestimmung der Nierenfunktion und ob Dialyse nötig ist
- Ergebnis: Mindestens Klasse IIa (kann höher sein je nach klinischer Bedeutung)
Begründung: Software, die zur Treffen von Diagnose- oder Behandlungsentscheidungen verwendet wird, qualifiziert sich als Medizinprodukt nach Regel 11.
Regel 14: Produkte mit integrierter Arzneimittel-Substanz
Wurzelkanal-Spüllösungen mit NaOCl oder CHX
- Enthalten Arzneimittel-Substanzen mit bekannter antimikrobieller Wirkung
- Ergebnis: Klasse III nach Regel 14, sofern Hersteller nicht wissenschaftlich nachweist, dass die antimikrobielle Wirkung irrelevant ist
Zusatzlösungen für rote Blutkörperchen mit Adenin
- Adenin (ein Arzneimittelstoff) erhöht die Haltbarkeit von Blut
- Ergebnis: Klasse III nach Regel 14, weil Arzneimittel-Substanz mit ancillary (nebengeordneter) Wirkung enthalten
Regel 16: Sterilisations- und Desinfektionsgeräte
Ethylenoxid (EtO) Gaskartuschen
- 100% EtO-Gas zur Sterilisation von Medizinprodukten
- Ergebnis: Klasse IIa, weil speziell zur Sterilisation anderer Medizinprodukte bestimmt
Teil 2: In-vitro-Diagnostika nach der IVDR (Verordnung 2017/746)
Was ist ein In-vitro-Diagnostikum (IVD)?
Ein IVD ist ein Produkt, das Proben analysiert, die vom menschlichen Körper stammen (Blut, Urin, Speichel, Atemluft, etc.), um Informationen über physiologische oder pathologische Zustände bereitzustellen.
2.1 Qualifizierung von IVDs
FeNO-Messgerät (Fraktioniertes ausgeatmetes Stickstoffmonoxid)
- Misst NO-Werte in ausgeatmeter Luft zur Diagnose von allergischem oder eosinophilem Asthma
- Ausgeatmete Luft = Probe, die vom menschlichen Körper stammt
- Ergebnis: Qualifiziert als IVD nach IVDR 2017/746
2.2 Klassifizierung von IVDs
IVDs werden in vier Risikoklassen eingeteilt:
- Klasse A = niedrigstes Risiko
- Klasse B = mittleres Risiko
- Klasse C = erhöhtes Risiko
- Klasse D = höchstes Risiko
Die Klassifizierung erfolgt durch 7 Regeln im Anhang VIII der IVDR. Das Manual vermerkt, dass spezifische Beispiele noch von der BCWG unter dem Helsinki-Verfahren erarbeitet werden.
Wichtigste Erkenntnisse für die Praxis
Der Nachweis-Maßstab: Wer trägt die Beweislast?
Der Hersteller muss beweisen, nicht die Behörde:
- Will ein Hersteller behaupten, dass sein Produkt „nur mechanisch" wirkt, obwohl es Arzneimittel-Stoffe enthält → wissenschaftlicher Beweis erforderlich
- Will ein Hersteller behaupten, dass sein Produkt kein Medizinprodukt ist → Beweis durch wissenschaftliche Evidenz erforderlich
- Bloße Angaben des Herstellers reichen nicht aus – nur robuste wissenschaftliche Tests zählen
Absicht des Herstellers ist nicht entscheidend
- Ein Produkt mit pharmakologischer Wirkung bleibt pharmakologisch, auch wenn der Hersteller das bestreitet
- Die Qualifizierung ist wissenschaftlich objektiv, nicht subjektiv
- Substanzmischungen und Wirkmechanismen werden nach wissenschaftlichen Kriterien bewertet
Medizinischer Zweck ist zentral
- Ästhetische Verbesserung = kein medizinischer Zweck (z.B. Zahnaufheller)
- Krankheitsprävention = medizinischer Zweck (z.B. Untersuchungstisch-Abdeckungen)
- Umgebungskontrolle = kein medizinischer Zweck am/im Menschen (z.B. sterile Luftsysteme)
- Information für medizinische Entscheidungen = medizinischer Zweck (z.B. Rechner, Apps)
Besondere Aufmerksamkeit: Grenzprodukte
Produkte, die häufig problematisch sind:
- Zahnprodukte (Unterscheidung: ästhetisch vs. therapeutisch)
- Hautpflegeprodukte mit Wirkstoffen (Unterscheidung: Kosmetik vs. Medizinprodukt)
- Software und Apps (Unterscheidung: reine Datenverarbeitung vs. medizinische Entscheidungshilfe)
- Kombinationsprodukte (Produkt + Arzneimittel + Zubehör)
- Implantierbare Geräte (Kontakt mit Nervengewebe = fast immer Klasse III)
Ressourcen und weitere Informationen
- Offizieller Link: health.ec.europa.eu – MDCG-Dokumente
- Aktuelle Version: Manual on Borderline and Classification, Version 4, September 2025
- Rechtsgrundlage: Artikel 4 MDR (Rechtlicher Status von Produkten)
- Für IVDs: Artikel 3 IVDR + Artikel 47 IVDR
- Helsinki-Verfahren: Prozess zur Klärung grenzfalliger Produkte zwischen Mitgliedstaaten
Das Handbuch zur Abgrenzung und Klassifizierung ist für Hersteller von Medizinprodukten ein unverzichtbares Nachschlagewerk, um bereits in frühen Phasen der Produktentwicklung sachgerecht festzustellen, ob ein Produkt ein Medizinprodukt darstellt, und darauf gestützt die angemessene Klassifizierung sowie die wissenschaftlich fundierte Studienkonzeption auszuwählen. Sie benötigen eine Einschätzung bzw. zunächst Beratung zur Klassifizierung Ihres Medizinprodukts oder fragen sich, ob Sie eine klinische Studie oder klinische Prüfung benötigen? Kontaktieren Sie uns gerne für ein erstes Beratungsgespräch!
(Stand September 2025)
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