MDCG 2019-11: Leitfaden zur Qualifizierung und Klassifizierung von Software unter MDR & IVDR
Mit der Umsetzung der Europäischen Medizinprodukteverordnung (MDR, 2017/745) und der In-vitro-Diagnostika-Verordnung (IVDR, 2017/746) stehen Hersteller, Entwickler und Betreiber von medizinischer Software vor verschärften regulatorischen Anforderungen. Die Medical Device Coordination Group (MDCG) hat mit dem Leitfaden 2019-11 ein europaweit verbindliches Dokument herausgegeben, das praxisnah erklärt, wann und wie Software als Medizinprodukt (Medical Device Software, MDSW) einzustufen ist.

1. Qualifizierung: Wann gilt eine Software als Medizinprodukt?
Entscheidend ist die Zweckbestimmung („intended purpose“) der Software:
- MDSW liegt vor, wenn eine Software
- zur Diagnose, Überwachung, Behandlung, Linderung oder Verhütung von Krankheiten,
- zur Erkennung, Überwachung, Behandlung, Linderung oder Kompensation von Verletzungen oder Behinderungen dient,
- oder zur Untersuchung, Ersetzung oder Veränderung der Anatomie oder eines physiologischen Vorgangs eingesetzt wird.
- Software, die ausschließlich administrative, Lifestyle- oder Wellbeing-Zwecke verfolgt, gilt nicht als MDSW unter MDR/IVDR.
Neu mit der Revision 2025 ist die Präzisierung zu Software, die lediglich Gesundheitsinformationen verarbeitet: Nur wenn daraus direkt ein medizinischer Zweck erfüllt wird, ist die Software MDR/IVDR-pflichtig.
2. Klassifizierung: In welche Risikoklasse fällt die Software?
Die Klassifizierung richtet sich im Wesentlichen nach Anhang VIII der MDR (besonders Regel 11), wobei die Art der Softwarefunktion und die Konsequenzen einer Fehlfunktion entscheidend sind.
- Klasse I (niedriges Risiko): Z.B. Verwaltungssoftware ohne klinische Entscheidung.
- Klasse IIa/IIb: Entscheidend für Diagnose, Therapieentscheidung, oder wenn sie den Zustand des Patienten dauerhaft überwacht.
- Klasse III (höchstes Risiko): Therapieentscheidungen bei kritischen Zuständen oder lebensbedrohlichen Krankheiten.
Besonders wichtig: MDR/IVDR verlangt eine Einzelbetrachtung für jede einzelne Softwarefunktion (modularer Aufbau). Hersteller müssen also beispielsweise eine App mit administrativer und diagnostischer Funktion jeweils separat bewerten und dokumentieren.
3. Praktische Beispiele & Klarstellungen
Der Leitfaden enthält zahlreiche Fallbeispiele:
- Diagnostische Apps: KI-Algorithmen zur Auswertung von Röntgenbildern = immer MDSW.
- Therapiesteuerung: Programme, die Insulindosierung in Echtzeit berechnen, fallen unter Klasse IIb-III.
- Informierende Apps: Software, die lediglich über Gesundheitsthemen aufklärt (ohne individuellen Bezug), ist kein MDSW.
- KI-/Machine Learning-Module: Solange sie klinisch intendiert sind, müssen sie als MDSW behandelt werden.
4. Besondere Neuerungen und Herausforderungen
- Erweiterte Beispiele für multinationale/ modulare Softwareprodukte und solche mit mehreren Zweckbestimmungen.
- Detaillierte Hinweise zur Abgrenzung zwischen MDSW und IVD-Software: Ist das Programm z.B. für Labordiagnostik gedacht, kommt die IVDR zur Anwendung.
- Berücksichtigung neuer Technologien wie Cloud, Mobile Health, Big Data und Interoperabilität mit elektronischen Gesundheitsakten (EHR).
5. Implikationen für Hersteller und Entwickler
- Für jede Softwarefunktion müssen klare Zweckbestimmung, Risikoanalyse, und eine eigenständige Klassifizierung vorgenommen werden (Dokumentationspflicht!).
- Die Einbeziehung von Entwicklungspartnern, klinischen Experten und Benannten Stellen wird empfohlen, um regulatorische Fallstricke frühzeitig zu vermeiden.
- Entwickler müssen auch für bereits bestehende Apps/Softwareprodukte laufend prüfen, ob Anpassungen am Regelwerk die Qualifizierung oder Klassifizierung verändern.
6. Bedeutung für den Digital Health Markt
Mit dem MDCG 2019-11 gibt es erstmals europaweit vergleichbare, praxisnahe Regulatory Guidance für digitale Medizintechnik. Das erhöht die Rechtssicherheit und schafft Chancengleichheit im EU-Binnenmarkt.
Gerade für Start-ups, Health-Tech-Unternehmen sowie Innovationsprojekte ist es unerlässlich, diese Anforderungen zu kennen und bereits in der Konzeptphase einzubeziehen, da Zulassung, Vermarktung und spätere Anpassungen von Softwareprodukten unmittelbar davon abhängen.
Weitere Ressourcen und Links
Das vollständige Dokument „MDCG 2019-11 rev.1“ ist auf der Website der Europäischen Kommission frei verfügbar. Zur Vertiefung sei zudem empfohlen:
- Die Regel 11 (“Rule 11”) im Originaltext der MDR
- Aktuelle MDCG-Guidance-Dokumente und Updates
- Nationale Leitlinien und Veröffentlichungen zu Digital Health & Medical Device Software
Fazit:
Der Leitfaden MDCG 2019-11 ist Pflichtlektüre für alle, die medizinische Software in Europa entwickeln, vertreiben oder einsetzen. Die sorgfältige Umsetzung spart Zeit, Kosten – und schützt Patientensicherheit sowie Wettbewerbschancen im schnell wachsenden Markt für Digital Health!
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